Seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts glauben viele Kieferorthopäden vor allem in Deutschland, mit Zahnspangen das Wachstum des Unterkiefers steuern zu können. Vor allem beim Rückbiss des Unterkiefers werden die sogenannten funktionskieferorthopädischen Geräte viel verwendet, auch wenn schon sehr früh die klügeren Köpfe unter den Kieferorthopäden die skelettalen Wirkungen dieser Geräte bezweifelten. Seit etwa 1970 werden auch festsitzende Apparate beim Rückbiss eingesetzt, die den Unterkiefer nach vorne bringen sollen. Der Prototyp dieser Apparate ist das Herbst-Scharnier. Viele Kieferorthopäden glaubten lange Zeit, dass diese Apparate das Unterkieferwachstum effektiv kontrollieren könnten, weil sie 24 Stunden am Tag und über viele Monate kontinuierlich auf die Kiefer einwirken.
Die Frage ist jedoch, ob tatsächlich mit festsitzenden Zahnspangen vom Typ des Herbst-Scharniers das Unterkieferwachstum nachhaltig verändert werden kann. Die Autoren einer aktuellen, systematischen Übersichtsarbeit haben dafür eine umfassende Auswertung der gesamten kieferorthopädischen Literatur der letzten Jahrzehnte unternommen. Es wurden dafür 9 hochwertige Studien über festsitzende „funktionskieferorthopädische“ Apparate in die Auswertung eingeschlossen. Insgesamt 244 Patienten und 174 unbehandelte Kontrollpatienten waren in diesen Studien eingeschlossen. Das Durchschnittsalter der Patienten war 13,5 Jahre. Die Autoren fanden dabei nur recht geringe Veränderungen des Gesichtsschädels.
So fand sich eine minimale Veränderung im Oberkiefer von -0,83° pro Jahr des SNA-Winkels, im Unterkiefer ein geringer Zuwachs von 0,87° pro Jahr des SNB-Winkels. Die Lage von Oberkiefer und Unterkiefer zueinander, gemessen als ANB-Winkel, verbesserte sich um nur 1,74° pro Jahr. Diese aufs Jahr umgerechneten Effekte sind etwas besser als die Effekte mit herausnehmbaren Apparaten, mit denen auch die Therapiezeit deutlich länger ist. Die festsitzenden Apparate sind also wegen ihrer kürzeren Therapiezeiten etwas effizienter, unterscheiden sich aber in ihren Auswirkungen auf das Gesichtswachstum letzten Endes kaum von den herausnehmbaren Apparaten. Die Größenordnung all dieser knöchernen Veränderungen ist in einem menschlichen Gesicht unterhalb der Wahrnehmbarkeitsschwelle und damit klinisch bedeutungslos. In allen Studien wurden dagegen deutlich größere Bewegungen von Zähnen nachgewiesen. Die Autoren fügen hinzu, dass „die Langzeiteffektivität der festsitzenden funktionskieferorthopädischen Geräte wegen fehlender Evidenz nicht untersucht“ werden konnte. Die bisher veröffentlichten Langzeituntersuchungen weisen jedoch darauf hin, dass die unmittelbar nach Therapieende gemessenen skelettalen Veränderungen einige Jahre später kaum noch nachweisbar sind. Die Autoren schließen aus den gefundenen Daten, dass man mit festsitzenden Zahnspangen vom Typ des Herbst-Scharniers einen Rückbiss effizient behandeln kann, die Effekte sich wie bei den herausnehmbaren Apparaten aber überwiegend auf die Bewegung von Zähnen durch die Kiefer beschränken.
Quelle: Zymperdikas VF, Koretsi V, Papageorgiou SN, Papadopoulos MA. Treatment effects of fixed functional appliances in patients with Class II malocclusion: a systematic review and meta-analysis. Eur J Orthod. 2016 Apr;38(2):113-26. doi: 10.1093/ejo/cjv034. Review. PubMed PMID: 25995359; PubMed Central PMCID: PMC4914762.
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Kommentar: solche systematische Übersichtsarbeiten sind kostbar, weil sie das gesamte Wissen zu speziellen Fragestellungen übersichtlich und klar zusammenfassen. Ärzte können durch das Lesen solcher Übersichtsarbeiten unendlich viel Zeit und Mühe sparen, da sie die einzelnen Studien nicht auffinden und lesen müssen. An die Verfasser derartiger systematischer Reviews wird dafür ein sehr hoher Anspruch an Sorgfalt, Aufwand und Ehrlichkeit gestellt. Die bekanntesten Richtlinien für das Erstellen systematischer Übersichtsarbeiten finden sich unter www.prisma-statement.org. Es ist ein Trauerspiel, dass die meist in englischer Sprache publizierten, inzwischen zahlreichen systematischen Reviews in der Kieferorthopädie in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen werden. So darf sich auch niemand wundern, wenn deutsche Kieferorthopäden immer noch damit werben, mit herausnehmbaren oder festsitzenden „funktionskieferorthopädischen“ Apparaten Kinderkiefer verlängern zu können. Immerhin können aufgeklärte junge Patienten und ihre Eltern es heute besser wissen!