Seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts glauben viele Kieferorthopäden vor allem in Deutschland, mit herausnehmbaren Zahnspangen das Wachstum des Unterkiefers steuern zu können. Besonders mit den herausnehmbaren Spangen vom Typ des Aktivators (oder seiner Abkömmlinge wie Bionator, Twin-Block etc.) sollte der Unterkiefer nach Bedarf verlängert oder verkürzt werden. Besonders beim Rückbiss des Unterkiefers werden diese so genannten funktionskieferorthopädischen Geräte viel verwendet. Die so genannte Funktionskieferorthopädie hat bis heute eine große Anhängerschaft vor allem unter deutschen Kieferorthopäden.
Die Frage ist jedoch, ob tatsächlich mit herkömmlichen Zahnspangen wie den Aktivatoren das Unterkieferwachstum nachhaltig verändert werden kann. Die Autoren einer aktuellen, systematischen Übersichtsarbeit haben dafür eine umfassende Auswertung der gesamten kieferorthopädischen Literatur der letzten Jahrzehnte unternommen. Es wurden 17 hochwertige Studien über herausnehmbare funktionskieferorthopädische Apparate in die Auswertung eingeschlossen. Das Durchschnittsalter der Patienten war 10,6 Jahre. Die Autoren fanden dabei nur enttäuschend geringe Veränderungen des Gesichtsschädels. So fand sich eine minimale Veränderung im Oberkiefer von -0,28° pro Jahr des SNA-Winkels, im Unterkiefer ein geringer Zuwachs von 0,62° pro Jahr des SNB-Winkels. Die Lage von Oberkiefer und Unterkiefer zueinander, gemessen als ANB-Winkel, verbesserte sich um nur 1,14° pro Jahr. Die Größenordnung all dieser Veränderungen ist in einem menschlichen Gesicht unterhalb der Wahrnehmbarkeitsschwelle und damit klinisch bedeutungslos. In allen Studien wurden dagegen deutlich größere Zahnbewegungen nachgewiesen. Dazu kommt noch, dass die kleinen Veränderungen unmittelbar nach Therapieende gemessen wurden, aber einige Jahre später kaum noch nachweisbar sind. Die Autoren schließen, dass man mit herausnehmbaren Zahnspangen vom Typ des Aktivators einen Rückbiss behandeln kann, die Effekte sich aber überwiegend auf die Bewegung von Zähnen durch die Kiefer beschränken.
Quelle: Koretsi V, Zymperdikas VF, Papageorgiou SN, Papadopoulos MA. Treatment effects of removable functional appliances in patients with Class II malocclusion: a systematic review and meta-analysis. Eur J Orthod. 2015 Aug;37(4):418-34. doi: 10.1093/ejo/cju071. Review. PubMed PMID: 25398303
Kommentar: Mit den angeblich wachstumssteuernden Effekten wird der Einsatz der so genannten funktionskieferorthopdäischen Apparate gerechtfertigt. Mit diesen werden in Deutschland jedes Jahr zehntausende, z.T. jahrelange Behandlungen bei heranwachsenden Patienten durchgeführt. Diese Behandlungen sind für die Patienten hochgradig belastend, bringen meist relativ schwache Effekte und werden zu 30-50% erfolglos abgebrochen. Wer sich als Kieferorthopäde jedoch fortbildet, muss heute wissen, dass das Gesichtswachstum nicht unter der Herrschaft „kleiner, ephemerer Plastikstücke“ (Lysle Johnston) steht. Die weitere massenhafte Verwendung dieser Apparate mit dem Versprechen der Wachstumsbeeinflussung ist ein Skandal, der von ärztlicher Seite nur mit der Verbindung von schlechter Ausbildung und gut ausgebildeten Geschäftssinn erklärt werden kann.
Tipp für Eltern: Wir empfehlen, sehr genau nachfragen, wenn ein funktionskieferorthopädisches Gerät für ihr Kind empfohlen wird – in den meisten Fällen geht es mit einer einzigen festsitzenden Zahnspange schneller, komfortabler und wirtschaftlicher!