Der Rückbiss des Unterkiefers mit vergrößertem Überbiss der Schneidezähne ist kein seltener Anblick bei Kindern und einer der häufigsten Befunde in der Kieferorthopädie. Viele Kieferorthopäden propagieren bei diesem Befund einen frühen Behandlungsbeginn bereits im Grundschulalter, zu einem Zeitpunkt also, an dem das bleibende Gebiss noch gar nicht ausgebildet ist. Sie argumentieren, dass bei frühem Behandlungsbeginn das Wachstum der Kiefer verbessert werden könnte. Weiterhin würden die Ergebnisse schöner und stabiler, die Behandlungszeit kürzer und invasive Eingriffe wie Zahnextraktionen und chirurgische Kieferverlagerungen seltener notwendig.
Bis etwa 1990 war die Wissensbasis zur Bestimmung des optimalen Behandlungszeitpunkts beim Rückbiss jedoch sehr schlecht, so dass alle diese Aussagen mehr rhetorischer Art waren. Um dies zu ändern, wurden ab 1995 in den USA mehrere groß angelegte randomisierte, kontrollierte Studien (RCTs) begonnen. RCTs sind die hochwertigsten Studien für die Frage nach Therapiewirksamkeit in der Medizin. So wurden an der Universität Chapel Hill (North Carolina) 175 junge Patienten (Durchschnittsalter 9,4 Jahre) mit Rückbiss randomisiert, also nach Zufallsprinzip, auf drei Gruppen verteilt. Eine Gruppe wurde mit einem Bionator, eine weitere mit einem Headgear mit Nackenzug früh behandelt. Die dritte Gruppe blieb als Kontrollgruppe zunächst unbehandelt. Nach Ende der Frühbehandlung wurden die Patienten noch in einer zweiten Behandlungsphase mit einer üblichen Multibracket-Apparatur behandelt, während die Patienten aus der Kontrollgruppe nur mit einer einzigen späten Phase mit Multibracket-Apparatur behandelt wurden.
Es erwies sich, dass sowohl mit dem Bionator als auch mit dem Headgear eine geringfügige, kurzfristige Wachstumsbeeinflussung möglich ist. Diese Veränderungen sind jedoch nur in der Größenordnung eines Millimeters. Wichtiger noch war aber, dass die kleinen Gewinne der Frühbehandlung über die Zeit nicht stabil blieben und schon zwei Jahre nach Therapieende nicht mehr nachweisbar waren. Die früh behandelten Kinder müssen also nach der ersten Behandlungsphase weniger Kieferwachstum gehabt haben, so dass die spät behandelten Kinder den geringen Vorsprung aufgeholt haben.
In der früh behandelten Gruppe waren auch genauso viele invasive Eingriffe wie Extraktionen und chirurgische Kieferverlagerungen notwendig wie in der spät behandelten Gruppe, so dass die Frühbehandlung sich in dieser Hinsicht als nicht besser erwies. Dafür dauerte die Behandlung der früh behandelten Kinder insgesamt deutlich länger und verursachte höhere Belastungen und Kosten als die einphasige, späte Behandlung.
Die Autoren berichten, dass sie selbst von den Effekten der Frühbehandlung zunächst beeindruckt waren. Dies sei aus ihrer Sicht jedoch ein Beispiel dafür, dass man sich nicht von klinischen Beobachtungen zu voreiligen Schlüssen verleiten lassen sollte. Die Autoren schließen aus der Auswertung aller Daten, dass die Frühbehandlung des Unterkieferrückbisses ineffizient ist und nur gerechtfertigt werden kann, wenn ein Mehrnutzen für die Patienten nachgewiesen werden kann. Dies könnte bei wenigen, genau zu definierenden Patientengruppen der Fall sein. Im Regelfall sollte nach unserem heutigen Wissensstand jedoch keine Frühbehandlung mehr gemacht werden, da sie Kinder, Eltern und Kostenträger sinnlos belastet, ohne einen Mehrnutzen zu bieten.
Tip für Eltern: in der Regel sollte eine kieferorthopädische Behandlung erst beginnen, wenn das bleibende Gebiss fertig entwickelt ist. Dies ist etwa mit 11 Jahren der Fall. Ein früherer Behandlungsbeginn bedeutet längere Behandlungsdauer, mehr Belastung für Kind und Eltern, und höhere Kosten, und sollte daher nur in wenigen, gut begründeten Ausnahmefällen stattfinden!
Quellen:
- Tulloch JF, Phillips C, Koch G, Proffit WR. The effect of early intervention on skeletal pattern in Class II malocclusion: a randomized clinical trial. Am J Orthod Dentofacial Orthop. 1997 Apr;111(4):391-400. PubMed PMID: 9109584
- Tulloch JF, Proffit WR, Phillips C. Outcomes in a 2-phase randomized clinical trial of early Class II treatment. Am J Orthod Dentofacial Orthop. 2004 Jun;125(6):657-67. PubMed PMID: 15179390