Es ist internationaler Goldstandard, die kieferorthopädische Behandlung Heranwachsender im frühen bleibenden Gebiss zu beginnen. Die Patienten sind dann etwa 11-12 Jahre alt, der Zahnwechsel ist abgeschlossen, und alle bleibenden Zähne sind durchgebrochen. Bei diesem Befund können die meisten jungen Patienten mit einer einzigen festsitzenden Apparatur in durchschnittlich etwa 18 Monaten behandelt werden. Vor diesem Zeitpunkt sind stets noch Milchzähne vorhanden und viele bleibende Zähne nicht durchgebrochen, so dass sie kieferorthopädisch gar nicht bewegt werden können. Schon deshalb ist eine kieferorthopädische Behandlung im Wechselgebiss, eine sogenannte Frühbehandlung, fragwürdig. Darüber hinaus ist eine kieferorthopädische Behandlung zum idealen Zeitpunkt mit 11-12 Jahren einfacher, weil der pubertäre Wachstumsschub naht, und kieferorthopädische Behandlungen in dieser Phase mit raschem Wachstum schneller gelingen als in den Jahren davor.
Es gibt also kaum vernünftige Gründe, kieferorthopädische Behandlungen bereits im Grundschulalter zu beginnen. Leider ist genau das in Deutschland bis heute weit verbreitet: zahllose kieferorthopädische Behandlungen werden entgegen dem Stand der Wissenschaft bei Grundschulkindern im Alter zwischen 6 und 10 Jahren begonnen, obwohl sie noch zahlreiche Milchzähne im Mund haben. Noch schlimmer ist, dass ein Großteil dieser sogenannten kieferorthopädischen Frühbehandlungen mit den überwiegend veralteten herausnehmbaren Zahnspangen durchgeführt wird. Herausnehmbare Zahnspangen können von den jungen Patienten gar nicht so viel getragen werden, wie es eigentlich nötig wäre, so dass solche Behandlungen zu 30-50% mit Misserfolgen enden. Und selbst wenn Behandlungseffekte erzielt werden, so sind diese meist bescheiden und die Ergebnisse so schlecht, dass in aller Regel anschließend noch eine festsitzende Apparatur eingesetzt werden muss.
Ein schönes Beispiel einer ausgedehnten Frühbehandlung, die von November 2016 bis April 2018 durchgeführt wurde. Der Oberkiefer ist schmal, der Biss vorne weit offen, die Schneidezähne sind schief geblieben: außer Zahnwechsel hat sich in eineinhalb Jahren nichts getan…
Unsere Beispiele von kieferrthopädischen Frühbehandlungen verdeutlichen, dass hier oft jahrelang Kinder und Eltern mit vollkommen sinnlosen Behandlungsmaßnahmen belastet werden – profitieren werden bei solchen Behandlungen immer nur die behandelnden Kieferorthopäden. Und selbst wenn bei einigen Frühbhandlungen kleine Verbesserungen erreicht werden, ist meist die Frage, ob diese nicht viel einfacher mit der Hauptbehandlung im frühen Jugendalter zu machen wären!
Es darf auch etwas länger dauern: fast 4 Jahre wurde diese Patientin im Rahmen einer Frühbehandlung mit herausnehmbaren Apparaten behandelt (aktive Platten, Funktionsregler nach Fränkel), ohne dass 1 mm Zahnbewegung erreicht wurde. Der Befund hat sich sogar verschlechtert.
Daher verwundert es nicht, dass kieferorthopädische Frühbehandlungen in den meisten anderen entwickelten Ländern weitgehend verschwunden sind. Das selbe gilt für die die Mehrzahl der herausnehmbaren Zahnspangen, die in anderen Ländern kaum noch genutzt werden. Ebenso ist es eine deutsche Besonderheit, dass bei uns fast alle Kieferorthopäden ein eigenes Labor betreiben, in dem herausnehmbare Zahnspangen hergestellt werden. Ein Eigenlabor beim Kieferorthopäden ist in keinem anderen Land der Welt üblich – kein Wunder, denn große Mengen herausnehmbarer Apparate brauchen die Kieferorthopäden in anderen Ländern nicht. Den frühen Behandlungsbeginn und die verbreitete Behandlung mit herausnehmbaren Zahnspangen bezahlen Patienten und Eltern teuer: mit überlanger Behandlungsdauer, zahlreichen Misserfolgen und Behandlungsabbrüchen, nicht zuletzt aber mit unnötig hohen Kosten.
Alle Behandlungsziele konnten in 15 Monaten erreicht werden – Voraussetzung war die Präsenz der meisten bleibenden Zähne und der Verzicht auf eine „Vorbehandlung“ mit herausnehmbaren Apparaten
Und genau da liegt der eigentliche Grund für die antiquierte Behandlungsweise in der deutschen Kieferorthopädie. Durch die deutsche Gebührenordnung sind Behandlungen mit herausnehmbaren Zahnspangen etwa doppelt so profitabel wie mit festsitzenden Apparaten. Die Behandlung mit herausnehmbaren Zahnspangen erfordert so wenig Wissen, Können und körperliche Anstrengung, dass sie dem uralten Menschheitstraum eines arbeitsfreien Einkommens recht nahe kommt. Damit wird auch verständlich, warum viele deutsche Kieferorthopäden potentielle junge Patienten am liebsten schon mit 6 Jahren in Behandlung nehmen wollen und glühend für Frühbehandlungen werben. „Je früher, desto besser“, heißt es dann, und man könne „mit frühem Behandlungsbeginn die kieferorthopädische Behandlung weniger aufwändig“ gestalten. Dann wird erst einmal ein paar Jahre „früh“ behandelt, und danach noch ein paar Jahre „richtig“ – einfacher wäre es doch, klug abzuwarten und nur einmal zu behandeln, oder? Solche Aussagen von Kieferorthopäden zur Frühbehandlung sind in der Regel leicht als von wirtschaftlichem Interesse geleitet zu durchschauen.
Deshalb ist überrascht es nicht, dass die Berufsverbände in der deutschen Kieferorthopädie sich pro Frühbehandlung äußern. Sowohl der Berufsverband der deutschen Kieferorthopäden (BDK), das German Board of Orthodontics, als auch die Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie setzen sich regelmäßig für die kieferorthopädische Frühbehandlung ein – die Zunft kämpft eben um ihr gewohntes, leicht zu erwerbendes Einkommen. Bei der Interpretation solcher Aussagen sollte man jedoch immer an die dahinter stehenden wirtschaftlichen Interessen der Autoren denken.
Nur bei ganz wenigen kieferorthopädischen Befunden gibt es Ausnahmen: dazu zählen vor allem der verkehrte Überbiss von Frontzähnen oder auch der schmale Oberkiefer mit komplettem seitlichen Kreuzbiss des Unterkiefers. In solchen Fällen und bei einigen anderen, seltenen Befunden kann eine kieferorthopädische Frühbehandlung ausnahmsweise gerechtfertigt sein. In unserer kieferorthopädischen Praxis in Mannheim betrifft das aber höchstens jedes 20. Kind, so dass wir im Jahr kaum auf 10 Frühbehandlungen kommen. Vor allem führen wir die Behandlung ausschließlich mit festsitzenden Apparaten durch, die sicher und schnell zum Erfolg führen!
Achtung: Gezielte Fehlinformationen im Internet
Leider ist das Internet voll mit Fehlinformationen von Kieferorthopäden zur kieferorthopädischen Frühbehandlung. Besonders beliebt ist die Behauptung, die Frühbehandlung würde fatale Entwicklungen der Zähne und der Kiefer im idealen Alter mit einfachen Mitteln korrigieren, womit „später“ viel Aufwand erspart bliebe. An dieser Vorstellung ist tatsächlich alles falsch: es gibt kaum Befunde, die mit 12 nicht besser als mit 6 Jahren behandelt werden könnten, allein schon weil dann der Zahnwechsel abgeschlossen ist und der pubertäre Wachstumsschub ausgenutzt werden kann. So eindeutig das wissenschaftlich geklärt ist, kämpfen da manche Kollegen mit schlechten Argumenten für ihr leicht verdientes Einkommen bei zahllosen kleinen Kindern, die mit herausnehmbaren Apparaten traktiert werden. Die verwendeten herausnehmbaren Spangen sind auch keineswegs „einfache“ Behandlungsmittel, sondern sozial hochgradig einschränkend und in ihrer Wirkung meistens schlecht.
Der Gipfel der Unehrlichkeit findet sich auf der Website einer großen kieferorthopädischen Praxis aus Deutschlands Südwesten. Hier wird mitgeteilt, dass Kieferorthopäden „bislang“ den Behandlungsbeginn nach Durchbruch aller bleibenden Zähne für ratsam hielten, da dann „die Behandlung in 2 bis 3 Jahren abgeschlossen werden kann“. Demgegenüber habe sich „aktuell die Meinung der kieferorthopädischen Frühbehandlung durchgesetzt, dass sich das noch zu erwartende Wachstum zunutze gemacht werden kann (…)“. Der ideale Zeitpunkt für die Erst-Vorstellung des Kindes beim Kieferorthopäden bestehe demnach bei einem Alter von 5 bis 6 Jahren.
Richtig ist in allen Punkten das Gegenteil: die Frühbehandlung ist seit 90 Jahren und bis heute der heilige Gral der deutschen Kieferorthopäden, von dem durch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung fast nichts mehr zu retten ist. Die Frühbehandlung war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, international immer ein Außenseiterverfahren und wird heute kaum noch von seriöser Seite verfochten – hier so zu tun, als habe sie sich neuerdings durchgesetzt, ist eine gezielte Täuschung des Publikums. Ein lustiges Detail ist übrigens, dass der Kollege von der „Meinung“ der Frühbehandlung spricht. Wissenschaftlich orientierte Ärzte gründen ihr Handeln glücklicherweise nicht auf „Meinungen“, sondern auf Evidenz: das heißt auf den aktuellen Stand der publizierten Wissenschaft. Starke Evidenz für kieferorthopädische Behandlungen vor dem Alter von 11 Jahren gibt es in der wissenschaftlichen Literatur jedenfalls nicht. Aber wer lässt sich schon gerne von nüchternen Fakten vom Geldverdienen abhalten?
Tipp für Eltern: Wenn Ihrem Kind eine kieferorthopädische Frühbehandlung empfohlen wird, holen Sie sich lieber vorher eine zweite oder dritte Meinung ein. Im Zweifelsfall einfach abwarten, bis Ihr Kind mindestens 10 Jahre alt ist – abwarten hat selten geschadet, aber sinn- und ziellose Frühbehandlungen haben schon viel unnötigen Ärger und vermeidbare Kosten verursacht!