Kieferorthopädische Behandlung vor dem Alter von 11 Jahren ist wissenschaftlich fragwürdig

Die kieferorthopädische Behandlung junger Patienten wird fast überall auf der Welt mit 11-12 Jahren begonnen. Zu diesem Zeitpunkt ist das bleibende Gebiss weitgehend ausgebildet, und es bestehen ideale Voraussetzungen für eine kurze und wenig belastende kieferorthopädische Behandlung mit einer einzigen, festsitzenden Zahnspange. In Deutschland ist es dagegen weit verbreitet, bereits im Grundschulalter mit der kieferorthopädischen Behandlung zu beginnen, wenn noch viele Milchzähne vorhanden sind. Dies wird gerne damit gerechtfertigt, dass zu diesem frühen Zeitpunkt das Kieferwachstum beeinflusst werden könnte, die Behandlungen kürzer und die Ergebnisse besser wären als bei einer späteren Behandlung. Alle diese Behauptungen sind durch die wissenschaftliche Forschung der letzten 20 Jahre jedoch gründlich widerlegt worden.

Jetzt haben britische Kieferorthopäden eine systematische Recherche in der wissenschaftlichen Literatur unternommen, um zu klären, ob eine kieferorthopädische Behandlung vor dem Alter von 11 Jahren irgendwelche Vorteile für die jungen Patienten bringt. Dieser so genannte systematische Review wurde durchgeführt für verschiedene Befunde wie den Rückbiss des Unterkiefers, den seitlichen Kreuzbiss, den vorne offenen Biss und einige mehr. Die Autoren fanden dabei für keinen einzigen kieferorthopädischen Befund einen Nachweis eines Mehrnutzens bei früher kieferorthopädischem Behandlungsbeginn gegenüber dem regulären Beginn mit 11-12 Jahren.

Im Gegenteil zeigte sich für nahezu alle Befunde, dass ein früher Behandlungsbeginn mit längerer Behandlungszeit, höherer Belastung für die jungen Patienten und höheren Kosten verbunden war. Die Autoren schließen aus den ausgewerteten Studiendaten: „The additional cost and burden to the patient, parent and clinician may, therefore, generally negate early treatment.“ (Die zusätzlichen Kosten und Belastungen für Patienten, Eltern und Arzt sprechen generell gegen Frühbehandlung.) Der frühe Behandlungsbeginn im Wechselgebiss ist also nicht evidenzbasiert, d.h. durch wissenschaftliche Erkenntnis gestützt, sondern willkürlich und undiszipliniert.

Warum wird in Deutschland trotzdem von zahllosen Kieferorthopäden, von Berufsverbänden und sogar von Hochschullehrern der frühe Behandlungsbeginn im Wechselgebiss propagiert? Die Vermutung liegt nahe, dass deutsche Kieferorthopäden die frühe kieferorthopädische Behandlung nicht trotz, sondern wegen ihrer Unwirtschaftlichkeit bevorzugen. Denn was für Patient, Eltern und Krankenkassen unnötige Mehrkosten sind, bedeutet für die Kieferorthopäden ein sattes Plus in der Kasse. Dies ist auch das tiefere Geheimnis, warum Literaturreviews wie dieser in Deutschland gar nicht erst zur Kenntnis genommen werden.

Tip für Patienten und Eltern: Verweigern Sie einen Behandlungsbeginn vor dem Ende des Zahnwechsels, wenn der Kieferorthopäde nicht genau und nachvollziehbar den Mehrnutzen eines frühen Behandlungsbeginns nachweisen kann!

Sunnak R, Johal A, Fleming PS. Is orthodontics prior to 11 years of age evidence-based? A systematic review and meta-analysis. J Dent. 2015 May;43(5):477-86. doi: 10.1016/j.jdent.2015.02.003. Review. PubMed PMID: 25684602.

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