Die Dysgnathiechirurgie ist ein Teil der Kieferchirurgie, der sich mit der chirurgischen Verlagerung ganzer Kiefer oder Kieferteile bei ausgeprägten Abweichungen der Kieferstellung befasst. Die häufigste Operation ist die Verlagerung des Unterkiefers nach vorne, nach hinten oder zur Seite, die heute meistens als bisagittale Splitosteotomie durchgeführt wird (BSSO). Bei der BSSO wird der Unterkiefer beidseits im aufsteigenden Ast durchtrennt, worauf das zahntragende Mittelteil verlagert werden kann. Die drei Fragmente werden danach mit chirurgischen Schrauben oder Platten wieder fixiert. In der Nachsorge werden die Kiefer oft für ein paar Tage mit Drähten oder starken Elastics zueinander fixiert. Während einige Kieferchirurgen dies überhaupt nicht mehr machen, kann die Zeit der sogenannten intermaxillären Fixation bei anderen um 5 Tage andauern.
Vorbiss des Unterkiefers mit vorne offenem Biss: hier verhalf die Dysgnathiechirurgie zu einem guten Ergebnis
Neben allen allgemeinen Operationsrisiken hat die BSSO zwei spezielle Risiken: die Schädigung des Unterkiefernerven (dritter Ast des Nervus trigeminus) und die Beeinträchtigung des Kiefergelenks. Der Unterkiefernerv innerviert die Zähne, die Unterlippe und einen Teil des Kinns, nicht aber die mimische Muskulatur, die durch den Gesichtsnerven versorgt wird und nie geschädigt wird. Kommt es zu einer Schädigung des Unterkiefernerven, äußert sich das durch verringertes Gefühl oder Taubheit der Unterlippe, meist einseitig. Diese Erscheinung bildet sich im ersten Jahr nach der Operation meistens zurück. Geringfügige Beeinträchtigungen sind vielleicht bei einem Viertel der Patienten zu verzeichnen, während schwere Beeinträchtigungen eher selten sind. Am Kiefergelenk kommt es nicht selten zu leicht eingeschränkter Beweglichkeit, gelegentlich auch zu Schmerzen und Knacken.
Vorher: Ein Rückbiss des Unterkiefers kann einen entspannten Mundschluss unmöglich machen – auch hier half die Dysgnathiechirurgie
Nachher: Die erste kieferorthopädische Behandlung war gar nicht einmal schlecht, hat aber das Problem Mundschluss ignoriert. Die Verlagerung beider Kiefer hat das Gesicht harmonisiert, die Lippen liegen jetzt entspannt aufeinander! Es wurden eine LeFort-I-Osteotomie im Oberkiefer und eine BSSO im Unterkiefer durchgeführt.
Der zweithäufigste Eingriff ist die LeFort-I-Osteotomie im Oberkiefer. Dabei wird der Oberkiefer in Höhe des Nasenbodens vorsichtig vom Schädel gelöst. Verbunden bleibt der Oberkiefer nur über das Weichgewebe des Gaumens, durch das auch die Nervenbahnen und die Blutversorgung ziehen. Nach Ablösung kann der Oberkiefer prinzipiell in alle Raumrichtungen versetzt oder gedreht werden, um danach mit chirurgischen Platten fixiert zu werden. Anders als bei der BSSO im Unterkiefer bestehen hier keine speziellen Risiken. BSSO und LeFort-I-Osteotomie werden auch häufig gleichzeitig durchgeführt, weil damit oft bessere Ergebnisse zu erreichen sind als mit den Eingriffen in nur einem Kiefer. Beide Operationen sind seit ihrer Einführung ständig verbessert worden und inzwischen seit Jahrzehnten Routine. Wichtig für die Abwägung von Risiken, Belastungen und möglichem Nutzen ist, dass es sich bei der Dysgnathiechirurgie in aller Regel um Wahleingriffe handelt, für die keine zwingende Indikation vorliegt. Patienten sollten also stets gut aufgeklärt selbst ihre persönliche Entscheidung treffen, ob sie einen dysgnathiechirugischen Eingriff wünschen. In geeigneten Fällen erweitert die Dysgnathiechirurgie das kieferorthopädische Behandlungsspektrum erheblich und kann zu drastischen Verbesserungen in Funktion und Ästhetik führen.
Die British Orthodontic Society bietet auf Ihrer Website sehr umfassende Informationen über Dysgnathiechirurgie. Diese reichen von Erklärungen der verschiedenen Operationsmethoden bis zu 14 längeren Filmen mit Geschichten einzelner Patienten. Sehr empfehlenswert – aber natürlich in englischer Sprache!