Die Myofunktionelle Therapie (MFT) ist ein Behandlungskonzept in der Kieferorthopädie, das die Optimierung der Funktion von Zunge und Mundmuskulatur zum Ziel hat. Hintergrund ist die Beobachtung, dass eine flache Zungenlage mit Einlagerung der Zunge zwischen die Frontzähne häufig mit einem offenen Biss verbunden ist, d.h. dass die Frontzähne überhaupt keinen Kontakt haben. Gleichzeitig haben die betroffenen Kinder oft eine gewohnheitsmäßige Mundatmung, gelegentlich auch eine beeinträchtigte Aussprache. Die Grundidee der MFT ist, durch systematische Übungen die Zungenlage zu verbessern und die Mundmuskulatur zu einem entspannten Mundschluss zu trainieren. Ebenso soll eine ungehinderte Nasenatmung erreicht werden. Die Verbesserung der Muskelfunktion soll dann wiederum eine Verbesserung der Zahnstellung bewirken – alles ohne kieferorthopädische Apparate, nur mit funktionellen Übungen.
Was machen die Vertreter der Myofunktionellen Therapie nun mit „dysfunktionalen“ Kindern? Es wird versucht, mit verschiedenen Übungen einen zuverlässigen Mundschluss und Nasenatmung zu erreichen, gleichzeitig gilt das Bemühen der Zunge, die an den Gaumen und nicht zwischen die Zähne positioniert werden soll. Die Kinder müssen dafür regelmäßig Therapiestunden haben und am besten noch von den Eltern zu Hause zu den MFT-Übungen ermuntert und überwacht werden. Das ist alles zweifellos ehrsam, jedoch ist in den meisten Fällen fraglich, ob es sich hier wirklich um medizinische Probleme und um eine sinnvolle Therapie handelt.
Keine Beweise für die Wirksamkeit der Myofunktionellen Therapie
Das Konzept der Myofunktionellen Therapie hört sich so schön an, dass man sich fragt, warum die MFT nicht ständig in der Kieferorthopädie eingesetzt wird. Im wirklichen Leben hat sich die MFT jedoch keineswegs so bewährt, wie die schlüssig klingende Idee vermuten lässt. Obwohl das Konzept inzwischen über 100 Jahre alt ist und Hunderte von wissenschaftlichen Artikeln dazu veröffentlicht wurden, gibt es bis heute keinen Beweis für die Wirksamkeit der MFT. Glücklicherweise sind in den letzten Jahren drei systematische Übersichtsarbeiten zur Myofunktionellen Therapie erschienen, die die umfangreiche Literatur zum Thema durchsucht und geordnet haben. Sieht man sich die Publikationen zur Myofunktionellen Therapie näher an, so sind es meistens Fallberichte oder unkontrollierte Studien mit wenig Aussagekraft, während nur sehr wenige kontrollierte oder gar randomisierte Studien durchgeführt wurden. Die Qualität der Literatur zur MFT ist also überwiegend schlecht.
Im ersten der Reviews (Homem 2014), erfüllten unter 355 gefundenen Studien nur 4 gängige Qualitätskriterien. Alle, auch diese Studien, hatten ein hohes Risiko von Bias, also einer einseitigen und nicht objektiven Herangehensweise. Die Autoren schlossen, dass es auf dieser dürftigen Grundlage keinen Beweis für die Wirksamkeit der Myofunktionellen Therapie gäbe. Der zweite der Reviews (Koletsi 2018) kommt zu keinem anderen Ergebnis: „Although early orthodontic management and myofunctional treatment in the deciduous and mixed dentition children appears to be a promising approach, the quality of the existing evidence is questionable“. (Obwohl die MFT bei Kindern im Wechselgebiss als verheißungsvoller Ansatz erscheint, sind die Beweise für ihre Wirksamkeit zweifelhaft). Und auch der dritte Review kommt zu keinem anderen Schluss: „Although the concept of OMT has existed since the early part of the 20th Century, many of its purported benefits for the treatment of malocclusion remain undemonstrated in the scientific literature“ (Obwohl das Konzept der MFT seit dem frühen 20. Jahrhundert besteht, sind viele seiner angeblichen Vorteile für die kieferorthopädische Behandlung niemals in der wissenschaftlichen Literatur belegt worden.) Bevor jetzt jemand vermeint, hier seien lauter böse Menschen am Werk gewesen – das waren alles ehrlich bemühte und fleißige Kieferorthopäden, die der Sache auf den Grund gehen wollten. Was sie fanden war, dass die Myofunktionelle Therapie ein stark propagiertes Konzept auf einer schwachen Grundlage ist. Und das unabhängig davon, ob die Autoren aus Brasilien, Griechenland oder Australien stammen: keine gute Empfehlung für die Myofunktionelle Therapie!
Kritik am Konzept der Myofunktionellen Therapie
Die große Frage ist, bei welchen Kindern der Einsatz der Myofunktionellen Therapie überhaupt ehrlicherweise in Frage kommt. Kinder mit ständig offenem Mund und sichtbar zwischen den Zähnen eingelagerter Zunge können sehr wahrscheinlich von der MFT profitieren, wenn es gelingt, sie zur Mitarbeit zu motivieren. Die MFT wird vielerorts jedoch nicht nur in solchen Fällen, sondern bei nahezu alle jungen Patienten empfohlen. Hier stellt sich die Frage, ob die angenommene „orale Fehlfunktion“ in der Regel nicht einfach eine normale Entwicklungsstufe und eine letzten Endes harmlose Variante des Normalen ist. So verbessern sich die Zungenlage, der Mundschluss und damit auch ein offener Biss bei den meisten Kindern im Alter von 6-12 Jahren ganz von allein. Dazu kommt, dass abgesehen von extremen Fällen die betroffenen Kinder keineswegs unter ihren vorgeblichen „oralen Fehlfunktionen“ leiden, und deshalb auch nur schwer zum ständigen Üben zu motivieren sind.
Die „orale Fehlfunktion“ hat in vielen Fällen den Charakter einer vom Arzt erfundenen Krankheit, für die er auch gleich die „Heilung“ anbietet. Es ist ein immer engeres Normieren von Körperzuständen, die zwar niemanden stören, die aber trotzdem unbedingt ärztlichen Eingriffen unterworfen werden sollen. Das ist das Gegenteil des Arztes, der leidenden Menschen in der Not hilft – es ist Krankheiten erfinden (disease mongering). Während die MFT in extremen Fällen also durchaus ihre Verdienste haben kann, ist sie in der Breite eingesetzt unbegründet und eine sinnlose Belastung für Kinder und Eltern. Die Grenzen für ihren Einsatz sind zur Zeit noch nicht präzise zu fassen, jedoch erscheint die MFT vor allem bei Kindern sinnvoll, die wegen „oraler Fehlfunktion“ in ihrer sozialen Umgebung auffällig sind, also wirklich nur bei stark ausgeprägten Fällen.
Fragwürdig ist der breitflächige Einsatz der Myofunktionellen Therapie auch deshalb, weil die meisten kieferorthopädischen Befunde keinen eindeutigen funktionellen Hintergrund haben. Ein großer Teil der Kiefer- und Gebissentwicklung ist schlicht genetisch vorgegeben und steht in keinem Zusammenhang mit „oralen Fehlfunktionen“. Deshalb ist bei den meisten kieferorthopädischen Patienten auch bei größtem Übefleiß kein Effekt auf die Zahnstellung zu erwarten. Es ist interessant zu beobachten, dass die Myofunktionelle Therapie in der Kieferorthopädie trotz dieser Vorbehalte durch das Wirken besonders charismatischer Autoren alle Jahrzehnte wieder in Mode kommt.
Erdacht wurde die Myofunktionelle Therapie zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Kieferorthopäden Rogers in den USA, der jedoch keinen großen Einfluss erreichte. Ab 1960 publizierte der Kieferorthopäde Straub im American Journal of Orthodontics einige Artikel zur Myofunktionellen Therapie, die wegen ihrer bescheidenen Qualität heute sicher nicht mehr akzeptiert würden. Auch dieser Autor blieb ohne große Wirkung in der Kieferorthopädie. In den 70er Jahren löste der amerikanische Logopäde Garliner dann den ersten MFT-Boom in der Kieferorthopädie aus, der nach anfänglich großer Begeisterung jedoch bald wieder abebbte. Die durch Garliner ausgelöste MFT-Welle uferte derartig aus, dass selbst die Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie, traditionell der MFT eher zugeneigt, 1982 und 1988 eine sehr kritische Stellungnahme zur MFT nach Garliner veröffentlichte. Später kamen der argentinische Kinderarzt Castillo Morales und die anthroposophisch geprägte Sprachtherapeutin Padovan aus Brasilien – beides durchaus faszinierende und charismatische Persönlichkeiten mit segensreichem Wirken bei bestimmten, kleinen Patientengruppen – aber ohne einen tragfähigen Ansatz für eine durchschnittliche kieferorthopädische Behandlung. Der Boom währte immer ein paar Jahre, bis die Kieferorthopäden doch resigniert feststellen mussten, dass die MFT nur für wenige Patienten geeignet ist und meistens nur wenig Nutzen bringt.
In besonderen Einzelfällen kann die MFT zweifellos hilfreich sein, für die breite Masse der kieferorthopädischen Patienten ist ein Nutzen jedoch kaum zu erwarten. Unehrlich erscheint vor diesem Hintergrund, dass heute wieder einzelne Kieferorthopäden die Myofunktionelle Therapie als den letzten Schrei in der Kieferorthopädie vermarkten – oder besser verkaufen, denn meistens steht ein massives Profitstreben hinter den scheinbar weichen, menschlichen MFT-Ansätzen. Den Kunden, wie in diesem Fall die Patienten besser heißen sollten, sei größte Zurückhaltung empfohlen: kein Kind ohne sozial auffällige Fehlfunktionen braucht Myofunktionelle Therapie!
Tip für Eltern: Wenn ihr Kind Ihnen als altersmäßig normal und zufrieden erscheint, lassen Sie sich nicht auf Myofunktionelle Therapie ein. Die Zeit und das Geld sind in sportliche oder musikalische Aktivitäten ganz bestimmt besser investiert! Bei Kindern mit auffälligen Fehlfunktionen rund um den Mund kann die Myofunktionelle Therapie nichtsdestotrotz Gutes bewirken. Da wir exakte Grenzen für den Einsatz der MFT nicht kennen, ist vornehme Zurückhaltung eine gute Strategie.
Quellen: 3 systematische Reviews zur Myofunktionellen Therapie
Homem M, Gonçalves Vieira-Andrade R, Moreira Falci S, Ramos-Jorge M, Silva Marques L. Effectiveness of orofacial myofunctional therapy in orthodontic patients: A systematic review. Dental Press J Orthod. 2014;19:94-9. (Dieser Artikel ist kostenlos als PDF herunterzuladen)