Das Ziehen bleibender Zähne für die kieferorthopädische Behandlung ist unbeliebt bei den Patienten und ihren Eltern, und auch viele Zahnärzte ziehen nicht gerne gesunde Zähne aus kieferorthopädischen Gründen. Auch als Kieferorthopäde schreibt man nicht gerade mit Begeisterung vier Zähne zum Entfernen auf, so dass es kein Wunder ist, dass in den letzten Jahren das Zähneziehen aus kieferorthopädischen Gründen etwas aus der Mode gekommen ist. Manche Kieferorthopäden rühmen sich, gar keine Zähne mehr ziehen zu lassen.
In einem wissenschaftlichen Übersichtsartikel haben die Autoren zusammengefasst, warum das Zähneziehen für die kieferorthopädische Behandlung in vielen Fällen weiterhin die beste Lösung für die Patienten bleibt. Der erste und einfachste Grund ist Platzmangel. Zwar ist es leicht möglich, beliebigen Platzmangel durch Verbreiterung der Zahnbögen und Vorkippen der Frontzähne zu beseitigen, also durch Expansion der Zahnbögen. Dieses simple Verfahren hat jedoch seine Grenzen: 1. droht lebenslang ein vollständiger Rückfall der Expansion, so dass ein großer Aufwand zur Stabilisierung nötig wird, 2. besteht das Risiko von Zahnfleischrückgang und freiliegenden Zahnhälsen bei so behandelten Patienten, und 3. sieht ein stark vergrößerter Zahnbogen in einem schmalen Gesicht oft einfach schlecht aus – damit wird das Hauptziel der Patienten, bessere Ästhetik, verfehlt!
In vielen Fällen ist Zähneziehen auch deshalb notwendig, um vorstehende Lippen etwas in ihrer Fülle zu reduzieren oder um einen entspannten Mundschluss zu ermöglichen. Manchmal ist Zähneziehen sinnvoll, um eine stark abweichende Mittellinie der Zähne zu korrigieren. Weitere Gründe, bleibende Zähne zu opfern, können der Ausgleich von Fehlbissen der Kiefer mit kieferorthopädischer Behandlung oder die Vorbereitung für die chirurgische Korrektur von Fehlbissen sein (Dysgnathiechirurgie). Ein gewissenhafter Kieferorthopäde wird seinen Patienten diese – und das sind nur die wichtigsten von den Autoren genannten – Gründe für das Opfern von Zähnen ausführlich erklären. Letzten Endes ist in solchen Fällen eine Behandlung ohne Zähneziehen mit Nachteilen verbunden, die die Patienten für den Rest ihres Lebens hinnehmen müssen. Ein Kieferorthopäde, der mit „niemals Zähneziehen“ wirbt, handelt unehrlich und verschweigt schlicht die Langzeitfolgen seiner Behandlungen.
Aufklärung über die Vor- und Nachteile von Zähneziehen ist bei den Kieferorthopäden in unserer Praxis in Mannheim selbstverständlich, auch wenn es bequemer wäre, einfach immer die Zahnbögen aufzudehnen. Entscheiden müssen letzten Endes die betroffenen Patienten in einer aufgeklärten Abwägung von Vor- und Nachteilen der verschiedenen Therapiemöglichkeiten.
Jerrol L, Chay C, Accornero M. The extraction of teeth: Part 1 diagnostic and treatment considerations. Semin Orthod 2019;25: S. 309-317